Denk mal! Im November 2012…

Per Zufall kam mir vor längerer Zeit das „Tagebuch eines Landpfarrers" in die Hände. George Bernanos hat es in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts verfasst. Es erzählt das Leben eines jungen Priesters damals in Nordfrankreich, der, noch nicht abgebrüht genug, unter den zahlreichen Ungereimtheiten und Widersprüchen seines Amtes leidet.

Zum Schluss geht Alles nach innen. In seine schwach veranlagte Natur setzt sich die Krankheit und er stirbt zu früh.

Ich komme auf dieses Buch zurück, nicht nur, weil die letzten Worte, die der katholische Schriftsteller der Hauptfigur in den Mund legt, wohltuend an diejenigen des Reformators erinnern: „Was macht das schon aus? Alles ist Gnade!" – ich komme auf dieses Buch in diesen Herbsttagen mit Reformationstag, Allerheiligen, Geburtstag Luthers, Volkstrauertag und Totensonntag zu sprechen, weil es mit der Beschreibung einer typischen Novemberstimmung beginnt. Das Licht vom Himmel wird weniger, der Spiegel der Hormone, die das Wohlbefinden sonst heben, sinkt.

Nun eine Leseprobe:

Meine Pfarre wird vom Stumpfsinn geradezu aufgefressen. Wie so viele andere Pfarren auch! Vor unseren sehenden Augen frisst der Stumpfsinn sie auf, und wir sind machtlos dagegen. Eines Tages werden wir vielleicht davon angesteckt sein und entdecken, dass wir von diesem Krebs befallen sind. Man kann jedoch recht lange Zeit damit leben.

Gestern kam ich unterwegs darauf. Es fiel gerade ein feiner Regen, so einer von der Art, wie man ihn mit voller Lunge einatmet und bis in die Eingeweide hinunterrieseln spürt. Völlig unvermittelt tauchte in der Richtung von Saint-Vaast das Dorf vor mir auf, ganz zusammengesackt, ganz trübselig unter dem gräulichen Novemberhimmel. Es war rundum in dampfende Nebel gehüllt und sah aus, als hätte es sich wie ein armes erschöpftes Tier in das triefend nasse Gras geduckt. Wie klein ist doch so ein Dorf! Und dies Dorf war nun meine Pfarre. Meine Pfarre! Und ich konnte ihr gar nicht helfen. Ich sah, wie sie traurig in das nächtliche Dunkel tauchte, sah sie verschwinden… Noch ein paar Augenblicke, und ich würde sie nicht mehr sehen. Nie war mir zum Bewusstsein gekommen, wie einsam sie ist und wie einsam ich selbst bin. Ich dachte an das Vieh, das ich im Nebel husten hörte. Der kleine Kuhhirt, auf dem Rückweg von der Schule, mit dem Ranzen unterm Arm, mochte es eben jetzt über die patschnassen Wiesen hintreiben, zum warmen, mit schwerem Geruch erfüllten Stall… Und das Dorf… auch das Dorf schien, nachdem es so viele Nächte im schlammigen Dreck verbracht hatte, auf einen Herrn zu warten – aber ohne viel Hoffnung –, auf einen, dem es folgen könnte zu einer unwahrscheinlichen, unvorstellbaren Zufluchtsstätte…

Ich sagte mir also, die Welt wird vom Stumpfsinn aufgefressen. Natürlich muss man ein wenig nachdenken, um sich das klar zu machen, man erfasst es nicht sogleich. Es ist wie Staub. Solange man mit Gehen und Kommen beschäftigt ist, sieht man ihn nicht, man atmet ihn ein, man isst und trinkt ihn, und er ist so fein und dünn, dass er einem nicht einmal zwischen den Zähnen knirscht. Sowie man aber einen Augenblick stehen bleibt, hat man Gesicht und Hände über und über bedeckt von ihm. Man muss ständig in Bewegung sein, um diesen Ascheregen von sich abzuschütteln. Darum ist die Welt immer so viel in Bewegung.

Das Zusammengeducktsein des Dorfes, sein Versinken in Dreck und Schmiere, in dem, was es nach unten zieht, es sind Symbole und Synonyme für Depression und Tod, in denen alles zerfließt, sich einebnet, gleich wird, als wäre es nichts oder nie gewesen. Stumpfsinn nennt der Priester das erstorbene Gefühl; es wird hingenommen, wortlos ertragen; du kannst sowieso nichts ändern. Es ist wie es ist: man ist schon an zu vielem vorüber gekommen, verlorene Hoffnung und verlorene Träume, wenn man ehrlich ist ein Verlustgeschäft. Man fragt sich, ob ein Mensch je davon freikommt.

Aber nun bedient sich die Welt – so die Beobachtung des Priesters – eines Kunstgriffes. Sie tut so, als könne sie ihr Geschick leichter haben als es in Wahrheit ist, sie tut so, als könne sie Erde, Asche, Staub, Dreck von sich abschütteln indem sie die Menschen immerzu in Bewegung hält, in Hektik, in Unruhe, in Rummel, in Kommen und Gehen. Es ist die wesen- und seelenlose Betriebsamkeit, unter der wir heute nicht selten leiden, die Beschleunigung der Zeit, als könne man so seinem Geschick enteilen.

Menschen z.B.. die es zu Hause nicht aushalten können, reisen immer schneller irgendwohin, nur um immer kürzer dort zu verweilen. Blaise Pascal meinte einst, alles Übel rühre daher, dass der Mensch keine Ruhe halten könne; schon der Wechsel von einem Raum in den anderen sei verderblich. Und so haben es sich auch die Frommen im Talmud gedacht: Wenn Israel einmal nur einen einzigen Sabbat einhält, die Erlösung würde sogleich kommen.

Die Psalmen preisen Gott als Zuflucht, als Gott, der aufrichtet aus dem Staub und erhöht aus dem Schmutz, der die Kraft gibt, sein Geschick anzunehmen und sein Leben zu wagen, obgleich oder gerade weil es ein Leben ist, auf das sich Staub und Erde und Schmutz legen, ein Leben zum Tode hin.

Und das Neue Testament hält uns als Hoffnungsgut durchs Sterben hindurch das Reich Gottes vor Augen, wo „eine Ruhe vorhanden ist" und einen neuen Himmel und eine neue Erde und das Jerusalem von oben, wo wir in Christus sein werden.

Ob aber Gott so ist, wie er den Frommen im Judentum erscheint und wie das Neue Testament ihn meint, ob er also wahr ist, das ist eine offene Frage solange wir leben, ein Risiko gewissermaßen, unser Experiment, das erst mit unserem eigenen Sterben einen Abschluss findet.

Doch sind stets der Wahlmöglichkeiten nicht viele:

Entweder – Oder / Ende oder Anfang / Nichtsein oder Dasein / Tod oder Leben / Leere oder Fülle / Höllenfahrt oder Auferstehung / Erniedrigung in den Staub oder noch einmal Erde in den Händen Gottes für eine neue Schöpfung.

Der frühere Präses Peter Beyer hat es einmal so bekannt:

„Ich, ein elender Mensch, Gottes unendlich bedürftig, blind für das Leben, wie es gedacht war, ohne zu wissen, was rechts oder was links ist, bin geliebt, wie ich bin; kein Schuldner der Schuld, keine Beute des Todes, sondern Christus zu eigen, für immer. Ja, darauf bleib ich!"

Ihnen allen, liebe Gemeindeglieder, wünsche ich eine gute Zeit.