Denk mal! Im November 2003...

Novembergedanken

Im November denken wir wohl vermehrt ans Sterben. Wir wissen:

Im Tod sind die Menschen gleich, denn er ebnet alle bestehenden Unterschiede ein. Ist das die einzige Gerechtigkeit, die es gibt? Viele meinen, in diesem Sinn seien auch vor Gott alle Menschen gleich. Mit anderen Worten, es sei egal, wie man sich vor ihm verhalte, weil irgendwann sowieso Gras darüber wachse und alles vergessen sei.

Dem widerspricht allerdings die biblische Vorstellung eines Jüngsten Gerichts, bei dem herauskommt, wer der einzelne zeitlebens gewesen ist und bei dem Gott zwischen gut und böse trennt. Dies ist zwar eine beängstigende Vorstellung, doch ohne sie lässt sich gar nicht verstehen und vermitteln, warum es eigentlich der Gnade durch Christus bedarf. Sie ist ja gerade dazu da, das vernichtende Urteil Gottes über menschliche Schuld aufzufangen und den Begnadigten statt einem ewigen Tod dem ewigen Leben zuzuführen. Darum bitten wir jedes Mal, wenn wir bei Taufen das Lied singen:  "Nun schreib ins Buch des Lebens (vgl. Offb. 20,12), Herr, ihre Namen ein, und lass sie nicht vergebens dir zugeführet sein."

Im Buch des Lebens zu stehen, bedeutet also Gnade gefunden zu haben, gerettet, angenommen und bewahrt zu sein, nicht verloren zu gehen in Zeit und Ewigkeit, bedeutet, Einer gedenkt meiner, erinnert sich meiner, kennt und nennt mich bei meinem Namen, auch wenn schon längst Gras über mir wächst.

Verglichen damit ist menschliches Andenken ausgesprochen schwach. Meiner Beobachtung zufolge wird überwiegend verklärt und verherrlicht oder verdrängt und ausgelöscht,  je nachdem wie es gebraucht wird. Folgendes fällt mir dazu ein und ich erzähle es hier weiter.

In meinem Geburtsort gibt es ein Kriegerdenkmal in Gestalt der Toranlage einer mittelalterlichen Burg. Es wurde um 1900 in "gut deutschen" Zeiten errichtet. Kaum eine Schulklasse hat seitdem bei ihrem Jahrgangstreffen zum Erinnerungsphoto nicht Aufstellung auf den Treppenstufen zum Denkmal genommen.

Hier sind die Namen vieler auf Steintafeln "verewigt", jedoch bei weitem nicht aller. Aus dem Krieg 1870/71 werden die Namen aller 44 Kriegsteilnehmer, der toten wie der lebend heimkehrenden genannt, nach dem 1. Weltkrieg kamen die Namen von 95 Gefallenen und Vermissten hinzu, schließlich wurde eine Tafel angebracht: "Unseren 238 im II. Weltkrieg gefallenen Söhnen 1939/45". Hier herrscht Anonymität, "Den Opfern der Heimat" geht es auch nicht besser, sie bleiben ebenfalls ohne Namen, eine unbestimmbare Masse, ein graues Heer, ein Kollektiv. Doch wie kann man sich so ihrer bzw. eines Einzelnen erinnern?

Zum Umgang mit den Kriegstoten aus dem 2. Weltkrieg gibt es in meiner Heimatstadt noch eine Variante. In der großen evangelischen Kirche waren entlang einer ganzen Seitenwand Holzkreuze angebracht für diejenigen, die die Grabstätte ihres gefallenen Angehörigen nicht besuchen konnten oder nicht darum wussten. Jedes Kreuz war mit einem Namen beschriftet und es gab die Möglichkeit auf einem kleinen Podest darunter Blumen hinzustellen. Wie oft bin ich als Kind  mit nach dort gegangen! Als die Kirche Anfang der 6oger Jahre renoviert wurde, waren die Kreuze plötzlich, ohne dass es zuvor mitgeteilt worden wäre, beseitigt. Sie waren alle in einer Ecke auf einem Haufen zusammengeworfen. Und als meine Mutter nach dem Kreuz ihres Bruders suchte, war es mir, als zöge sie seine Knochen unter den Gebeinen der anderen hervor. Als sie sich beklagte, hörte ich aus dem Mund eines Kirchenvorstehers zum ersten Mal die Meinung, damit müsse doch endlich  Schluss sein. Von dem Geschick der Opfer von Terror und Gewaltherrschaft, deren Angehörige sich diese Meinung noch zigfach haben an den Kopf werfen lassen müssen,  wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

In der Kirche wurde dann nach der Renovierung eine Namenstafel im Eingangsbereich in Aussicht gestellt. Tatsächlich kam ein Stein in Kreuzform mit der Aufschrift:

Zum Gedenken im Gebet d. Gefallenen und Vermissten unserer Evangelischen Kirchengemeinde 1914-1918     1939-1945.

Das klingt nicht schlecht, weil Beten in der Kirche oder überhaupt nie verkehrt sein kann, doch ein wenig schmeckt es auch nach "nicht Fisch, nicht Fleisch".

Man fragt sich, warum auf die Namensnennung verzichtet wurde. Ob es zu viele Namen waren, die Steinmetzarbeit zu teuer geworden wäre? - wohl schwerlich. Oder ob es unter den vielen Namen den einen oder anderen Bösewicht zu vertuschen und zu verschweigen galt?  - vielleicht! Aber vermutlich wollte man ganz einfach nicht: eben Schlussstrich. In solchem Verhalten deutet sich dann eine Vergangenheitsbewältigung an, bei der man die Schuld trennend zwischen sich und die früheren stellte und sich auf diese Weise ihrer entledigte. Da war es nur richtig, Namen los zu werden. Doch die unschuldig schuldig wurden, sind damit doppelt gestraft. Das ist gerade für Kirche eine merkwürdige Art. Waren es nicht fast ausschließlich getaufte Menschen, bei ihrer Taufe womöglich mit dem schönen Wort aus Jesaja versehen "...ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein"?

Fazit: Erinnern und solide geschichtliche Buchführung sind zwar wünschenswert, auf Erden aber nicht die Regel, nicht einmal in der Kirche, sondern sie fallen eher ungenügend aus. Darum besteht sowohl die Hoffnung, dass die Eintragungen im Buch des Lebens sorgfältiger geschehen und es im Himmel besser werde,  als auch der Glaube an Gottes Gericht und Gnade völlig zu Recht. Wo sonst sollte ein Leben aufgehen?

Lutz Hustig